Archiv der Kommentare


Bereich 7009, Musik, Zeitraum 1950 - 1990

Seite 428 ff.
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Die Situation der deutschen Oper
Redakteur Ewald Schulz führte im Mai 1982 ein Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Dr. Arno Bruhns.
Folgend ein Auszug daraus (Niederschrift a.V.) Abkürzungen: ES = Ewald Schulz, AB = Dr. Arno Bruhns
Auszug

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ES: "Seit Mitte der siebziger Jahre steckt die deutsche Oper in der Krise. Schwindende Besucherzahlen, mangelndes Interesse in der Bevölkerung, immer mehr Städte, die Gelder für Opernbühnen kürzen. Vermuten sie einen speziellen Grund für diesen beginnenden Niedergang oder sehen sie darin mehr nur eine Modeerscheinung?"

AB: "Sie fragen mich das?"

ES: "Ja sicher, halten sie sich für den falschen Adressaten für eine solche Frage?"

AB: "So? Eine genaue Analyse steht aus. Noch aus. Aber grundsätzliche Betrachtungen haben wir schon angestellt, weil die Entwicklung wirklich besorgniserregend ist."

ES: "Gibt es bei den bisherigen Betrachtungen denn schon Anhaltspunkte für die wahren Gründe des drohenden Niedergangs der Oper im Allgemeinen?"

AB: "Gründe gibt es viele. Die Oper ist für viele Leute schlichtweg der Inbegriff der verordneten Langeweile geworden. Ein Unterhaltungsrelikt aus vergangenen Tagen, welches in der heute oftmals dargebotenen Form nicht mehr die Menschen anspricht."

ES: "Sehen sie dabei eher kulturelle Gründe als Auslöser des Niedergangs an?"

AB: "Sagen wir einmal so, es ist ein Gemisch aus Gründen. Es gibt nicht den Einzelgrund dafür. Ein ganzes Paket von Gründen formt sich zu einer ballastartigen Struktur, die die Oper nach unten zieht."

ES: "Wäre es aus ihrer Sicht sinnvoller, mehr gewagte Inszenierungen auf die Beine zu stellen, um verlorenes Terrain wieder gut zu machen?"

AB: "Das wäre einerseits eine Möglichkeit von vielen, bei der man jedoch höllisch aufpassen muß, da es genausogut zu einem Schuß werden kann, der gewaltig nach hinten los geht. Das typische Opernpublikum, sofern es das heute überhaupt noch gibt, ist meist wenig flexibel, was Inszenierungen angeht, die die Oper aus dem Staub der Jahrhundert zerrt."

ES: "Demnach sehen sie das Publikum selbst in der Verantwortung. Ist das Publikum selbst am drohenden Untergang der Oper schuld?"

AB: "Sehr geehrter Herr Schulz, wir reden hier von einem Patienten, nicht von einer Leiche! Sie stellen es ja fast schon so dar, als wäre die Oper bereits tot. Das ist sie beileibe nicht. Sie durchlebt eine schwierige Phase, wahrscheinlich sogar die schwierigste Phase der letzten 300 Jahre. Ich bin davon überzeugt, daß im Laufe längerer Zeit, das geht nicht von heute auf morgen, daß im Laufe längerer Zeit sich Möglichkeiten heraus kristallisieren werden, um die Oper und ihren Bestand zu sichern. Dazu bedarf es aber auch einiger wagemutiger Intendanten, die mal ein gewisses Probieren zulassen, damit sich die Macher an den Geschmack des heutigen Publikums herantasten können."

ES: "Also doch die Schuld beim Publikum?"

AB: "So gesehen liegt immer die Schuld beim Publikum. Kommt es nicht in die Opernhäuser, so ist es schuld; kommt es in Scharen, ist es auch schuld. So kann man das aber nicht auswerten. Es muss ja erkannt werden, warum das Publikum kommt oder eben nicht kommt. Man muss Möglichkeiten finden, den zeitaktuellen Geschmack des Publikums zu messen und auszuwerten. Demnach müssten dann die Aufführungen gegebenenfalls verändert, angepaßt und schlichtweg modernisiert werden. Es genügt nicht, die Opernhäuser zu modernisieren, man mus auch die Inszenierungen modernisieren."

ES: "Das geht doch gar nicht. Eine Inszenierung einer Oper ist doch in weiten Bereichen vorgegeben. Eine beispielsweise 200 Jahre alte Oper ist eben so angelegt, wie sie vor 200 Jahren angelegt wurde."

AB: "Ja , furchtbar! Das ist mit einer der Hauptgründe, warum der Niedergang überhaupt begonnen hat. Wer will sich heute noch solch unpassenden alten Schmäh stundenlang betrachten und anhören? Wenn man die 200 Jahre alte Oper heute noch so inszeniert, wie man es vor 200 Jahren gemacht hat, dann schleppt man auch den Staub von 200 Jahren mit sich und den will keiner."

ES: "Staub?"

AB: "Sehen sie es als Metapher. Man kann durchaus alte Stoffe auch neu inszenieren. Das haben weltweit schon zahlreiche Opernbühnen bewiesen. Im realen Leben fährt heute auch keiner mehr mit einer Pferdedroschke durch unsere Städte. Bei der Oper ist es langfristig nicht anders, wie im richtigen Leben, wer immer nur an der Vergangenheit fest hält, der verliert. Nur daß es bei der Oper alles etwas länger braucht, bevor man es bekmerkt, andernfalls wäre die Oper schon seit 100 Jahren mausetot."

ES: "Oper kostet in jeder Hinsicht viel Geld. Glauben sie, dass man angesichts der hohen Kosten überhaupt noch die Zeit hat, die Oper zu reformieren und neu aufzustellen? Ist es nicht vielmehr schon zu spät dafür?"

AB: "Ich glaube nicht, daß es dafür zu spät ist. Die Oper ist ein gewachsener Bestandteil der europäischen und insbesondere der deutschen Kultur, als ebensolchen wird man da nicht frühzeitig das Handtuch werfen und diese Art des Kulturbetriebes aufgeben."

ES: "Wem soll eine Kultureinrichtung denn noch Kultur vermitteln, wenn sie nicht mehr ausreichend Publikum findet?"

AB: "Ja, das ist ein schwieriger Weg. Ich kann da keinesfalls Lösungen und Wege aus dem Dilemma aufzeigen, schön wäre es, wenn ich es könnte, aber es ist auch nicht meine Aufgabe. Diese Lösungen muss man sich erarbeiten und sich herantasten, dazu benötigt man aber auch die Chance, dies tun zu können."

ES: "Mein Eindruck ist der, daß das sogenannte Publikum von diesen Entwicklungen jedoch gar nichts mehr mitbekommen wird, weil sich die meisten nicht mehr dafür interessieren."

AB: "Ein Schwierigkeit, die dabei gewiss eines der Hauptprobleme erzeugt. Ein Publikum, welches nicht mehr in die Opernhäuser kommt, bekommt von eventuellen Veränderungen und Verbesserungen auch nichts mehr mit. Dem entgegen zu wirken, das ist ein langwieriger Prozeß, der nur durch stetes Feilen an Verbesserungen Gestalt annehmen kann. Je mehr sich verändert und verbessert, um so mehr spricht es sich in der Welt der Interessierten auch herum, es braucht halt nur seine Zeit. Wir sprechen da nicht von Wochen oder Monaten, in denen solche Verbesserungen wirken können, wir reden hier von Jahren oder eher sogar von Jahrzehnten."

ES: "Aber was das alles kostet in dieser langen Zeit. Kann man die enormen Kosten denn einfach außen vorlassen?"

AB: "Wissen sie, bei solchen Kostenfragen bemühe ich gerne einen Vergleich. Wer fragt denn in unserer heutigen Zeit in der Öffentlichkeit danach, welche Nebenkosten irgendwelche Sportveranstaltungen erzeugen? Danach fragt keiner. Sind Sportveranstaltungen etwa höher zu bewerten, als Kulturveranstaltungen? Ich denke jedenfalls nein, im Gegenteil. Würde man das tun, hätten wir eines Tages ein Volk von gut durchtrainierten Schwachköpfen, die muskelbepackt jedes Kulturgut zerquetschen."

ES: "Hmm, so was kann man vergleichen?"

AB: "Warum denn nicht? Sie sehen das doch schon an der Entwicklung der zeitgenössischen Musik. Primitivste Musikstile greifen immer mehr um sich. Melodieloses Zeug wie Techno oder wie es sich nennt, fussend auf primitivsten Rhythmen. Jedem das Seine, aber wem der geistige Intellekt fehlt, weil er keine Möglichkeiten mehr hat, diesen zu schulen und im übertragenen Sinne zu trainieren, der wird auch zusehends geistig verrohen und irgendwann wieder im Stadium des Affen ankommen."

ES: "Eine Rückentwicklung des Menschen duchr fehlende Kultur, ist es das, was sie meinen?"

AB: "Unbedingt! Was macht denn eine hoch entwickelte menschliche Kultur aus? Gewiss nicht, daß die Leute muskelbepackt alles niederschlagen und mit primitiven Steinzeitmethoden sich über alles hinwegsetzen. Wir brauchen die Kultur wie die Luft zum Atmen, und die Kultur braucht eine ständige Weiterentwicklung und keine Rückentwicklung."

ES: "Von der Oper zur Gesamtkultur, so driften wir doch ein wenig ab."

AB: "Kann man das wirklich alles trennen? Ich meine nein."

ES: "Sollte man nicht versuchen, bei der Oper zu einer strikten Trennung vom reinen Spielbetrieb auf der wirtschaftlichen Seite und dem künstlerisch - musikalischen Inhalt auf der anderen Seite zu kommen?"

AB: "Haha, verzeihen sie mir meinen Heiterkeitsausbruch, aber das haben vor zig Jahrzehnten in Frankreich schon andere versucht und zwar ohne jeden Erfolg. Weil es nicht geht. Sie landen am Ende dabei in einem bürokratischen System von Apparatschiks die alles künstlerische lähmen."

ES: "In den USA laufen so höchst erfolgreich sehr aufwändige Musicaltheater. Dort gibt es eine absolut strikte Trennung von Kunstbetrieb und Wirtschaftsbetrieb und das funktioniert dort bestens. Warum sollte das hierzulande unmöglich sein?"

AB: "Aha. Punkt Nummero eins, sie können Musicalbetrieb überhaupt nicht mit Opernbetrieb vergleichen, das sind zwei völlig unterschiedliche Welten. Punkt Nummero zwei, sie können die USA nicht mit Deutschland vergleichen. Die Art und Weise, wie man dort kulturelle Darbietungen organisiert, ist eine völlig andere, wie hier in Deutschland. Das würde hier so nicht funktionieren, jedenfalls heute noch nicht. Vielleicht in vielen Jahren einmal, je nach dem, wie sich alles verändert und wenn die Rahmenbedingungen in die entsprechende Richtung gelenkt werden."

ES: "Ein Silberstreif am Horizont also?"

AB: "Wohl eher nicht. Ich weiss nicht, ob man sich wirklich die amerikanische Machart solcher Kulturdarbietungen wünschen sollte. Sie hat nicht nur Vorteile, sondern auch gewaltige Nachteile. Leichter würde es in jedem Fall für hochpopuläre Werke, jedoch weniger populäre Werke hätten dann wohl ihre letzte Chance verspielt, einmal in größerem Rahmen aufgeführt zu werden."

ES: "Wie oft gehen sie persönlich in die Oper?"

AB: "Nun, ich habe das noch nie gezählt, es mag vielleicht vier oder fünf mal pro Jahr sein, wenn man den Durchschnitt der letzten zehn Jahre als Bezugspunkt nimmt."

ES: "Wäre es nicht wünschenswerter, häufiger Opernaufführungen zu besuchen?"

AB: "Keinesfalls. Ich liege damit schon am oberen Limit. Eine Oper muß immer etwas besonderes bleiben, wenn sie zum Alltag wird, verliert sie jeglichen Anreiz. Zudem denke ich, daß es inhaltlich nicht zu unserer Fragerunde beiträgt, ob ich fünf mal oder zehn mal pro Jahr in die Oper gehe. Wie oft gehen sie denn?"

ES: "Ehrlich gesagt, müsste ich mich nun schämen, ich gehe nur äusserst ungern in die Oper. Vielleicht alle drei Jahre einmal. Wenn es sich vermeiden läßt, vermeide ich es."

AB: "Das ist ja interessant. Woran liegt es?"

ES: "Wäre ich bei der Kriminalpolizei würde ich jetzt sagen, hier stelle ich die Fragen. Aber sei es drum, ich sage es mal so, die Atmosphäre in der Oper gefällt mir nicht. Zudem hasse ich diesen ganzen aufgeblähten Habitus, den viele Besucher dort an den Tag legen. Aber das muß unter uns bleiben."

AB: "Ich mache ihnen keinen Vorwurf daraus, ich kann es sogar verstehen, da staunen sie. Die Oper ist heute aus mehreren Gründen kein Publikumsmagnet mehr, zwei haben sie selbst gerade genannt. In einer aufgeklärten Zeit haben viele Menschen einfach keine Lust mehr, sich in Schlips und Schale zu werfen, nur um ein paar Stunden lang längst veraltete Musikschauspiele zu bewundern."

ES: "Das klingt nach Hoffnungslosigkeit. Sehen sie mittelfristig doch die Oper in Deutschland am Ende? Ein Ende in Hoffnungslosigkeit?"

AB: "Keineswegs. Hoffnung besteht immer, die Hoffnung stirbt, wenn überhaupt, zuletzt. Jede Krise birgt das Potential, gestärkt aus ihr hervor zu gehen und ich denke, genau das wird mit der Oper in Deutschland geschehen. Heute schreiben wir das Jahr 1982, in vielleicht zehn, fünfzehn oder auch erst in zwanzig Jahren kämen sie möglicherweise erst gar nicht mehr auf die Idee, mir solche Fragen zu stellen, weil die Krise überwunden ist. Wie bei jeder Krise kann es natürlich sein, daß in der Magerzeit dazwischen einige Opernhäuser auf der Strecke bleiben, das würde ich zumindest nicht ganz ausschließen. Die, die überleben werden am Ende dafür gestärkt aus der Angelegenheit hervor gehen, davon bin ich überzeugt. Nur das Problem ist, es kann ihnen keiner sagen, wie lange dieser Prozeß der Gesundung dauert."

ES: "Vielen Dank Herr Doktor Bruhns, für dieses Gespräch."



 

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